Die «Unsterbliche Partie von Rubinstein»

«Uff, das war eine echte Herausforderung», meinte Roger. «Das hat Spaß gemacht. Hast du noch ein ähnliches Beispiel?»

Roberto schaut auf die Uhr. «Ihr seid richtige Plagegeister», grinst er. «Solche Beispiele von früheren Meistern habe ich noch etliche, zum Beispiel…» – er wischt und tippt auf seinem Tablet – «Partien von Steinitz, Lasker, Capablanca, Aljechin, Tarrasch, Euwe und andern Größen aus der Zeit zwischen 1886 und 1948.»

Er öffnet eine App: «Da sind Partien aus der jüngeren Vergangenheit kommentiert, die Namen dieser Meister kennt ihr vielleicht: Spasski, Fischer, Karpow, Kasparow, Kramnik, Anand, Carlsen, Caruana, … Ach, die nehmen wir uns später vor. Ich habe hier noch ein Juwel von einem Kombinationsspiel, gespielt 1907 im Rahmen des allrussischen Turniers in Łódź. Akiba Rubinstein – schon mal gehört –? spielte gegen Gersz Rotlewi, beide waren polnische Staatsangehörige. Dieser Kampf ging als die ‹Unsterbliche Partie von Rubinstein5)› in die Schachgeschichte ein. Ihr findet diese Partie auch auf YouTube und andern Internetseiten, wenn ihr Lust habt, sie nachzuspielen.»

Der Coach bringt die Figuren auf dem Brett wieder in die Startaufstellung und spielt die Partie Zug um Zug nach. «Ich empfehle euch wirklich, diese Partie einmal in Ruhe nachzuspielen, aber heute bleibt uns nicht mehr die Zeit dafür, und so befassen wir uns nur mit der Schlussphase dieses Kampfes. Rotlewi hatte die weißen Steine, und es kam zu einer Variante des abgelehnten Damengambits. Ich spiele die ersten 20 Züge rasch durch, ohne sie zu kommentieren.»

Roberto kann sich kurze Kommentare trotzdem nicht verkneifen, so meinte er zum 10. Zug von Weiß, dass statt Dd2 wahrscheinlich c4xd5 oder Dc2 besser gewesen wären und dass die drei Läuferzüge hintereinander vom 11. bis 13. Zug ein Tempoverlust waren.

«Wir haben es nicht eilig», meint Roger. Lisa und Nadja können sich ein Kichern nicht verkneifen.

«So, aufgepasst!», ruft Roberto. «Wir sind beim 20. Zug angekommen, Rotlewi ist nach Rubinsteins 19. Zug, Lb6+, mit dem König in die Ecke auf h1 gegangen, eine Alternative hatte er nicht. Nun schaut euch die Stellung auf dem Brett genau an! Rubinstein steht positionell besser und macht den nächsten Zug. Frage an euch: Was schlägt ihr vor, wie soll Schwarz den Angriff weiterführen? Zunächst ist ja noch sein Springer angegriffen…»

Rotlewi–Rubinstein, Łódź, 1907 6)

1. d4 d5
2. Sf3 e6
3. e3 c5
4. c4 Sc6
5. Sc3 Sf6
6. d4xc5 Lxc5
7. a2–a3 a6
8. b2–b4 Ld6
9. Lb2 O-O
10. Dd2 De7
11. Ld3 d5xc4
12. Lxc4 b5
13. Ld3 Tf8–d8
14. De2 Lb7
15. O-O Se5
16. Sxe5 Lxe5
17. f4 Lc7
18. e4 Tac8
19. e5 Lb6+
20. Kh1

Gemurmel unter den Juniorinnen und Junioren. «Springer auf d5», meint Nadja. Andere Vorschläge kommen nicht. «Ich sehe auch keinen besseren Zug», sagt Roger, «irgend etwas Sensationelles wird er wohl kaum gemacht haben. Mit dem Läufer g2 schlagen und Schach geben? Der König schlägt den Läufer, Schwarz geht mit der Dame auf b7 und greift den König erneut an, aber Weiß kann eine Figur auf e4 dazwischen stellen.»

Diagramm 122, Schwarz am Zug,

«Einverstanden», entgegnet Roberto, «Springer auf d5 hätten hier wohl fast alle gespielt. Rubinstein nicht, er antwortet mit…»

20. … Sg4!

«Oh, ich sehe!», ruft Lisa überrascht, «die Dame soll den Springer schlagen, damit der Turm d8 den Läufer d3 schlagen kann.»

«Richtig», sagt Roberto und führt den folgenden Zug aus:

21. Le4

Roberto erklärt: «Weiß hätte mit dem Läufer statt nach e4 zu gehen auch h7 mit Schachgebot schlagen können, um danach mit der Dame den Springer wegzuräumen. Aber nach Turm d8–d2 sieht es nicht gut aus für Weiß. Läufer e4 ist in Ordnung. Nun ist wieder Schwarz an der Reihe: euer Vorschlag?»

«Läufer e4 schlagen, oder Springer schlägt h2 – der König dürfte auf h2 nicht schlagen, sonst setzt ihn die Dame auf h4 matt –, denkbar ist auch Dame auf h4 mit Mattdrohung», analysiert Rudi.

«Super! Der letzte Vorschlag ist der beste, genau das machte Rubinstein», sagt Roberto und stellt die schwarze Dame auf h4.

21.… Dh4 (Diagramm 123)

Diagramm 123, nach 21. Le4 Dh4

«Mögliche Antworten von Weiß, um die Mattdrohung abzuwehren?», fragt der Coach. Ohne abzuwarten führt er den nächsten Zug aus:

22. g3 (Diagramm 124)

Diagramm 124, nach 22. g3

«Nun seid ihr wieder dran. Stellt euch vor, dass die gesamte russische Schachelite und Leute von der Presse an dem Turnier anwesend sind und diese spannende Partie gebannt verfolgen. Kann Rubinstein seinen Angriff erfolgreich weiterführen?», fragt Roberto.

«Ich bin ja kein Großmeister, und mir sticht nur ein Zug ins Auge», meint Nadja, «und der ist ganz einfach: Läufer b7 schlägt Läufer e4 und gibt Schach.» Aus dem kleinen Grüppchen meldet sich sonst niemand. Was spricht denn dagegen, diesen naheliegenden Zug auszuführen?, überlegt Lisa. Bin ich auch schon schachblind?

«Ich will euch nicht auf die Folter spannen», unterbricht Roberto das Schweigen, «sonst wird es zu spät heute. Hier Rubinsteins nächster Zug…»

22.… Txc3!! (Diagramm 125)

Diagramm 125, nach 22. g3 Txc3!

«Mann, darauf wäre ich nie gekommen!», staunt Roger. Lisa, Nadja und sogar Rudi sind genauso verblüfft.

Lisa kann es nicht fassen: «Weiß kann den Läufer auf b7 schlagen oder die Dame h4 beseitigen oder den Turm c3!? Moment – er schlägt den Turm c3, dann schlägt Schwarz den Läufer e4 mit Schachgebot, die Dame schlägt Läufer e4 und die schwarze Dame setzt auf h2 matt – nein, die Dame schlägt den Läufer e4 nicht, sondern zieht auf g2 und wird dort vom Läufer geschlagen. Dann wird Weiß trotzdem im nächsten Zug auf h2 von der Dame mattgesetzt. Also schlägt Weiß doch einfach die Dame, oder nicht?»

«Gut kombiniert», lobt der Coach. «So ist es, Weiß schlägt die Dame.»

23. gxh4

«Der nächste Zug ist wieder ein Hammerschlag, passt auf…».

23. … Td2!! (Diagramm 126)

Diagramm 126, nach 23.gxh4 Td2!

«Jetzt lasse ich euch noch ein wenig überlegen, was Rubinstein mit diesem Angriff bezweckt hat.» Roberto schaut auf die Uhr. Drei Minuten, dann zeige ich den nächsten Zug.

Rudi stützt den Kopf in beide Hände und starrt auf das Brett. «Faszinierend», sagt er. «Schlägt Weiß den Turm d2, dann schlägt Läufer b7 den weißen Läufer e4 mit Schachgebot, und Weiß muss mit der Dame auf g2. Und dann… Tc2?»

«Mir ist das zu hoch!», seufzt Nadja. «Weiß kann doch den Läufer b7 schlagen und die Dame hergeben. Darauf schlägt Weiß mit dem Läufer den Turm c3, und was bleibt dann Schwarz noch übrig?»

Lisa zupft an einer Haarsträhne, was bei ihr anscheinend das Denken fördert. «Der Läufer schlägt also b7, der Turm die Dame e2, der Läufer den Turm c3, so wie Nadja gesagt hat, aber Moment, dann schlägt doch der Turm den Bauern auf h2 und fertig! Der Turm ist vom Springer geschützt, und auf g1 kann der König wegen des Läufers b6 nicht. Also kann sich Weiß nicht retten, wenn er b7 schlägt.»

«Super, Lisa, genau gesehen», grinst Rudi. «Also muss die weiße Dame den Turm d2 schlagen, einen besseren Zug sehe ich nicht.»

«Stimmt», pflichtet ihm Roger bei, «aber umsonst hat Schwarz den Turm bestimmt nicht opfern wollen. Roberto, großer Meister, erlöse uns und zeig, wie es weitergeht!»

«Ich bin nicht der große Meister», lacht Roberto, ich spiele nur eine Partie nach, die es verdient hat, in die Schachgeschichte einzugehen. Hier also das Schlussbouquet! Ihr habt prima kombiniert und den nächsten Zug richtig vorausgesagt:

Diagramm 127, nach 25. Dg2 Th3!

24. Dxd2 Lxe4+

25. Dg2 Th3! (Diagramm 127)

«Das ist die Schlussstellung. Weiß kann mit keinem Zug mehr das Matt Txh2 verhindern, höchstens hinauszögern, zum Beispiel mit Läufer nach d4 oder Turm nach f2. Rubinstein hat kompromisslos alles hergegeben für das finale Matt.»

Die Teenies applaudieren.

Von Fesselungen und Ablenkungen

Eine Woche später. Die vier Unzertrennlichen haben sich wieder an einen der Tische im Klub gesetzt und freuen sich auf die neuen Schachaufgaben, die ihnen der Coach vorsetzen wird.

«Ich habe hier ein paar lehrreiche Beispiele gespeichert», verkündet Roberto, «dabei geht es um Blockaden, Fesselungen, Ablenkungen und Eröffnungsfehler. Das Material ist aus einem alten Lehrbuch von Jakob Neistadt 7) und kann helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn ihr euch in ähnlichen Situationen befindet wie in den Beispielpartien. Ihr könnt die Probleme zusammen diskutieren wie am letzten Freitag. Ihr seid längst keine Anfänger mehr und werdet die richtigen Lösungen finden. Im ersten Beispiel geht es um eine etwas verunglückte Eröffnung des Spielers mit Schwarz. Dabei ergibt sich für Weiß schon früh die Gelegenheit, einen Bauern umzuwandeln.» Roberto spielt die ersten Züge der Partie nach.

Die Bauernumwandlung

1. d4 d5

2. c4 c6

3. Sf3 Sf6

4. e3 Lf5

5. Db3 Db6

6. cxd5 Dxb3

7. axb3 Lxb1? (Diagramm 128)

Diagramm 128, nach 7. axb3 Lxb1

«Der letzte Zug von Schwarz erweist sich als Fehler. Warum? Welches wäre euer nächster Zug?», fragt der Coach.

«Wenn du mich so fragst, finde ich die schwarze Stellung gar nicht so schlecht, im Gegenteil. Nachdem Weiß den Läufer schlägt, schlägt der schwarze Springer den Bauern d5 und steht gut», findet Lisa.

«Nadja und Roger: eure Meinung?»

«Es muss wohl etwas Überraschendes passieren», vermutet Nadja, «sonst würdest du nicht so bohren. Gut, er lässt den Läufer stehen und schlägt den Bauern c6.» Sie schaut Roberto zweifelnd an.

«Super gedacht!», lobt Roberto, «genau das macht Weiß. Schwarz will nun seinen Läufer in Sicherheit bringen und gleichzeitig verhindern, dass Weiß mit dem Bauern b7 und dann den Turm a8 schlagen kann. Und jetzt die eigentliche Aufgabe für euch: Mit welchem Zug setzt Weiß die Partie fort, um sie zu seinen Gunsten zu entscheiden?»

Aufgabe (Diagramm 129):

8. dxc6 Le4

Wie setzt du die Partie fort?

9. … …

10. … …

11. … …

Diagramm 129, nach 8. dxc6 Le4

Lösung Seite

«Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Bauern c6 weitermarschieren zu lassen», meint Rudi.

«Aber wie? Bauer b7 schlagen geht nicht wegen des Läufers e4, Bauer nach c7 geht, aber nach Sb8–c6 kommt der Turm a8 ins Spiel, danach geht der schwarze Springer nach d5, und weg ist der Bauer», kommentiert Roger.

«Ah, ich sehe den Gewinnzug!», ruft Rudi nach einer Weile. Fast gleichzeitig geht auch Lisa ein Licht auf: «Ich glaube, ich weiß, was du meinst.» Auch Nadja und Roger melden, dass sie die Lösung gefunden haben.

«Das ist ja tricky», sagt Roger, «ich glaube nicht, dass ich den Zug in einem richtigen Spiel zum Voraus gesehen hätte.»

«Ihr könnt solche Partien auf eurem Tablet speichern», empfiehlt Roberto, dafür sind die Dinger ganz nützlich. Gehen wir zum nächsten Beispiel.»

Bilden und Ausnützen einer Fesselung

«Im folgenden Beispiel ist die Fesselung das Thema», erklärt Roberto und spielt die ersten Züge einer Partie schnell vor.

Robatsch 8) – Jansa 9), 1974

1. c4 f5
2. Sf3 Sf6
3. g3 g6

«Das ist eine Variante der Königsindischen Verteidigung», erklärt Roberto.

4. b3 Lg7
5. Lb2 0–0
6. Lg2 d6
7. d4 c6
8. 0–0 Kh8

«Kh8 war eigentlich unnötig», bemerkt der Coach.

9. d5 Da5
10. Sc3 Sxd5
11. cxd5 Lxc3

«Nun betrachtet die Stellung etwas genauer. Schwarz hat einen Mehrbauern. Hat Weiß ungenau gespielt? Macht einen Vorschlag, wie ihr mit Weiß weiterspielen würdet!»

«Du gibst uns Rätsel auf», murmelt Nadja. «Weiß muss doch jetzt einfach den Läufer c3 schlagen, oder nicht?»

«Das ist es gerade, was ich euch mitgeben möchte», antwortet Roberto geduldig. «Jeder Durchschnittsspieler würde den Zug machen, den Nadja vorschlägt. Das ist kein Vorwurf, denn es wäre nicht der schlechteste Zug, aber manchmal lohnt es sich, eine Stellung vertiefter anzuschauen, statt das Naheliegendste zu tun.»

Aufgabe (Diagramm 130):

11. cxd5 Lxc3

Welche nächsten Züge bringen Weiß den entscheidenden Vorteil?

11. … …

12. … …

13. … …

Diagramm 130,Weiß am Zug

Lösung Seite

«Dame nach c2 wäre möglich, aber wohl auch nicht so genial. Den meinst du nicht…» Roger verstummt plötzlich, dann hellt sich seine Miene auf:

«Oh, natürlich, du hast etwas von Blockaden und Fesselungen gesagt, also, die Blockade hatte ich eben im Kopf, und hier geht es um eine Fesselung. Jetzt sehe ich sie!»

Roger hat die Lösung gefunden, und auf sein Stichwort hin wird auch den andern klar, was er gemeint hat.

Die Entfesselung

Roberto ist sehr zufrieden mit dem Team und baut rasch eine neue Problemstellung auf. Die sei aus einer Spanischen Eröffnung heraus entstanden, erklärt er, der letzte Zug von Schwarz war Springer von c6 nach a5, um den Läufer b3 anzugreifen. «Solche Stellungen ergeben sich immer wieder», meint er, und nun fragt er in die Runde: «Ihr seht, der Springer f3 ist gefesselt. Findet einen Weg, den Springer zu entfesseln und den gegnerischen König anzugreifen. Vielleicht habt ihr vom berühmten Seekadettenmatt schon gehört, hier haben wir jedenfalls eine ähnliche Ausgangslage.»

«Seekadettenmatt, das kenne ich», sagt Rudi, «aber wie war das schon wieder? Wartet, ich komme noch drauf, Sekunde, es fängt damit an, dass Weiß…»

Aufgabe (Diagramm 131):

Weiß stellt Schwarz eine Falle, die dem Gegner zum Verhängnis wird. Wie geht das?

1.… …

2.… …

3. …

Diagramm 131,Weiß am Zug

Lösung Seite

«Gut, Rudi, du kennst das. Der Ablauf ist tatsächlich ähnlich wie beim Seekadettenmatt, auch wenn die Ausgangslage nicht dieselbe ist. Aber lass die andern noch ein wenig nachdenken.»

«Du warst bei den Seekadetten?» fragt Nadja.

«Quatsch», entgegnet Rudi und weiß natürlich, dass Nadja ihn auf den Arm nehmen will. «Das ist nur so eine Bezeichnung wie <Schäfermatt>, aber was das mit Seekadetten zu tun hat, weiß ich auch nicht. »

«Ich habe das auch schon irgendwo gesehen», erinnert sich Lisa. «Weiß setzt mit den Springern und dem Läufer den gegnerischen König matt.»

«Dann sollten wir eigentlich draufkommen», findet Roger.

Wenige Minuten später ist der Fall gelöst.

Linien öffnen

«Weil ihr so fit seid, gehen wir gleich zur nächsten Aufgabe.» Der Coach wischt auf seinem iPad und findet das Gesuchte. «Schaut diese Stellung bitte genau an. Schwarz hat eine richtige Festung aufgebaut, die schwer zu knacken scheint. Doch es gibt eine Schwachstelle. Wie schafft Weiß den Durchbruch?»

Roberto lässt das Team ein paar Minuten allein, um an einem andern Tisch ein Spiel zweier Junioren zu verfolgen. «Bin in fünf Minuten zurück.»

«Was machen wir damit?», fragt Roger, nachdem zunächst alle schweigend die Stellung betrachtet haben. «Ich bin wieder einmal schachblind.»

Aufgabe (Diagramm 132):

Wie knackt Weiß die schwarze Festung?

1.… …

2.… …

3. …

Diagramm 132 ,Weiß am Zug

Lösung Seite

«Mir sticht der Bauer e5 ins Auge. Wenn unser Meister von Durchbruch spricht, meint er vielleicht Bauer e5 nach e6», ist Rudis Vorschlag.

«Schwarz wird den Bauern schlagen, mit dem Läufer oder dem Bauern f7, und dann?» Lisa ist skeptisch.

«Ja, ich denke auch, dass e5–e6 der richtige Zug ist und Schwarz den Bauern schlägt», antwortet Rudi, aber wir sollen einen Schwachpunkt erkennen. Und ich sehe diesen Schwachpunkt», gibt sich Rudi überzeugt.

Rudi führt am Brett vor, was er gemeint hat, dann ruft Roger zum Nachbartisch rüber: «Chef, du kannst kommen, unser Käpt΄n hat, glauben wir, den Durchbruch geschafft!»

Kühlen Kopf behalten

«Hier noch ein Beispiel zum Thema Fesselung. Die Partie wurde 2013 im Rahmen des Kandidatenturniers für die Weltmeisterschaft in London gespielt. Wir spielen nur die Schlussphase der Partie zwischen Magnus Carlsen und Boris Gelfand nach 10). Carlsen gewann das Turnier und durfte danach den Titelverteidiger Viswanathan Anand herausfordern. Wie ihr wisst, hat Carlsen noch im gleichen Jahr auch diese Hürde genommen und ist Weltmeister geworden. Zur Entspannung müsst ihr keine Aufgabe lösen, sondern wir schauen uns einfach die letzten Züge des Spiels an.» Im Nu hat Robert sein Tablet mit dem Beamer verbunden und projiziert das Schachdiagramm auf die Leinwand.

Ihr seht die Stellung nach dem 41. Zug, Schwarz hat zuletzt Dc3 gespielt», doziert Roberto (Diagramm 133). «Wie beurteilt ihr die Chancen für Weiß?»

Diagramm 133, Weiß am Zug

«Sieht nach remis aus», meint Rudi.

«Weiß schlägt b7, Schwarz c5, dann wird es schwierig, den Mehrbauern durchzubringen.»

Die andern sind gleicher Meinung. «Gut», sagt Roberto und spielt Carlsens nächsten Zug:

42. Dxb7

«Wie ihr vermutet habt. Doch Gelfand schlägt nun nicht c5, sondern geht mit der Dame nach e1!»

42. … De1 (Diagramm 134)

Diagramm 134, Weiß am Zug

«Macht das Sinn?», fragt Nadja.

«Ihr seht gleich im nächsten Zug, was Schwarz beabsichtigt», entgegnet der Coach.

43. b6 Lc4 (Diagramm 135)

Diagramm 135, Weiß am Zug

«Clever», bemerkt Rudi. «Der Läufer ist nicht mehr zu retten.»

«Also, was meint ihr? Ist die Partie für Weiß verloren? Was wäre euer nächster Zug?»

«Ich würde aufgeben», sagt Nadja. «Mit einer Figur mehr gewinnt Schwarz.»

«Gleicher Meinung?», fragt Roberto Lisa und die beiden Jungs.

«Sehe ich auch so», pflichtet ihr Roger bei.

Rudi sieht es anders: «Jetzt ist Weiß am Zug. Ich würde mit der Dame auf f3, um zu verhindern, dass Schwarz nach dem Läufer auch den Bauern f2 holt.»

«Und du, Lisa?», will der Trainer wissen. Lisa schreckt auf. Sie hatte den gleichen Zug im Kopf wie Rudi und überlegt, ob Carlsen nicht doch noch eine Chance hat, einen der Bauern in eine Dame umwandeln zu können. «Ich würde auch Df3 spielen. Schwarz schlägt den Läufer, der König muss auf h2, aber dort ist er in Sicherheit. Jetzt müsste Schwarz verhindern, dass Weiß einen Bauern durchbringt.»

«Das nenne ich Abgebrühtheit. Genauso ist es!», freut sich Roberto. Deshalb habe ich dieses Beispiel gewählt: «Lasst euch nicht so schnell beeindrucken, behaltet kühlen Kopf.»

«Mann, du abgebrütetes Weib», spottet Roger.

«Es heißt abgebrüht, nicht abgebrütet», kreischt Nadja.

44. Df3 Dxf1+

45. Kh2 Db1

46. b7 (Diagramm 136)

Diagramm 136, Schwarz am Zug

Roberto hat die nächsten Züge gespielt.

46.… Db5

47. c6 Ld5

48. Dg3 (1: 0, Diagramm 137)

«Perfekt, die Partie ist entschieden», ruft Rudi. «Weiß wandelt den Bauern auf b8 in eine zweite Dame um, der Rest ist Formsache.»

Diagramm 137, Schwarz gab auf

Die Hinlenkung

«Ihr wart heute gut drauf», lobt Roberto. «Zum Schluss und zur Entspannung noch ein hübscher Dreizüger aus der Kategorie der Hinlenkungen. Dabei wird ein gegnerischer Stein mit Hilfe eines Opfers auf die gewünschte Position hingelenkt.» Er konsultiert sein Tablet und baut die Stellung auf. «Die schwarze Dame hat zuletzt vom Feld e6 aus den Bauern a2 geschlagen und droht mit Matt auf a1. Wie löst sich Weiß aus dieser Bredouille? Wenn ihr es geschickt anstellt, gewinnt Weiß in drei Zügen. Ab die Post, ich gebe euch höchstens fünf Minuten!»

Aufgabe (Diagramm 138):

Wie kann sich Weiß aus dieser bedrohlichen Lage befreien und die Partie zu seinen Gunsten entscheiden? 11)

1. … …

2. … …

3. …

Diagramm 138, Weiß am Zug

Lösung Seite

«Das tönt kompliziert mit dieser Hinlenkung. Weiß muss doch jetzt zunächst das Matt auf a1 verhindern», meint Nadja. «Zum Beispiel mit Dame nach a3…, aber das kann es ja nicht sein. Hm, so wie wir dich kennen, erwartest du einen Hammerzug, Dame d8 mit Schachgebot – ist es das?»

«Weiter», schmunzelt Roberto, «denk das Ganze zu Ende!»

«Klick!», grinst Rudi. «Das ist wirklich der Hammer!» Er blickt entzückt auf das Schachbrett und schaut dann Lisa erwartungsvoll an.

Lisa schaut konzentriert auf das Feld d8 und visualisiert die Stellung, die sich ergeben würde, wenn die weiße Dame da stünde. Der gegnerische König müsste sie schlagen und… Dann sieht sie auf einmal klar, auch Roger und Nadja haben kurz darauf die Lösung gefunden.

«Perfekt. Nächste Woche ist kein Training, da spielt unser Juniorenteam gegen die Junioren von Schwarz-Weiß», verkündet Roberto. «Ein Platz ist noch zu besetzen, und ich denke, dass das eine Gelegenheit ist, dich in unser Team aufzunehmen», grinst er Lisa an.

Lisa reagiert erschrocken. «Meinst du…?» Ihr fehlen die Worte. Träume ich? Sie schaut den Coach fragend an. «Ich habe mich doch noch gar nicht für die A-Gruppe qualifiziert.»

Zeichnung von Rosemarie J. Pfortner

www.kunstundschach-rjp.com

Robert James «Bobby» Fischer (* 9. März 1943 in Chicago; Illinois; † 17. Januar 2008 in Reykjavik, Island) war ein US-amerikanischer Schachspieler. Er war von 1972 bis 1975 Schachweltmeister. Bereits als 16-Jähriger nahm er am Kandidatenturnier teil, dessen Sieger den Weltmeister herausfordern durfte. Den Titel gewann er 1972 in einem als Match des Jahrhunderts bezeichneten Wettkampf gegen Boris Spasski [WIKIPEDIA].

«Doch, das hast du. Du hast die letzten Partien in der B-Gruppe alle gewonnen und genug Punkte gesammelt, um im A-Team spielen zu können. Außerdem brauchen wir dringend Verstärkung, wenn wir das Aufstiegsspiel gegen Schwarz-Weiß gewinnen wollen.»

«Da würde ich nicht lange überlegen», wirft Nadja ein. Auch Roger ist der Meinung, dass Lisa den Platz verdient habe. «Du steckst doch alle in die Tasche», gibt er sich überzeugt. «Nadja und ich kommen als moralische Verstärkung, nicht wahr, Nadja?»

«Klar, ist doch Ehrensache. Wir werden für dich und Rudi die Daumen drücken.»

«Das ist super!», sagt Rudi, und zu Lisa gewandt: «Du musst überhaupt nicht nervös sein, weißt du, die kochen auch nur mit Wasser.»

Wieder eine von Rudis altklugen Bemerkungen, aber Lisa freut sich über die Aufmunterungen. Der Coach verabschiedet die übrigen Team-Mitglieder, um anschließend Lisa über den Ablauf ihres ersten Meisterschaftsspiels zu informieren.