TEIL I

Lisa lernt Schach spielen

Wenn Onkel Erich nicht gewesen wäre, hätte Lisa wohl nie im Leben begonnen, sich wirklich für Schach zu interessieren. «Schach ist ein großartiges Spiel», behauptete er, «wer es einmal erlernt hat, findet überall auf der Welt Freunde, die das Spiel kennen und mit denen man sich austauschen kann, selbst wenn sie eine andere Sprache sprechen und einer anderen Kultur angehören.»

Erich und seine Frau Maya kommen fast jeden Sonntagabend zu Besuch und schauen nach dem Essen meistens zusammen mit Lisas Eltern den «Tatort»-Krimi. Vor einem Monat hatten Lisas Eltern ihr erstmals erlaubt, den Krimi mitzuschauen, aber dessen Handlung und die der folgenden «Tatorte» ließen sie eher ratlos zurück. Onkel Erich war nicht entgangen, dass Lisa sich nicht sonderlich für das Verwirrspiel mit Mordopfern, Scheinverdächtigen und mutigen Ermittlern interessierte, die den Fall jeweils im letzten Moment lösen konnten.

Lisa ist zwölf Jahre alt und kommt mit dem Schulunterricht ganz gut zurecht, ohne dass sie deswegen als Streberin gilt. Am liebsten spielt sie in der Freizeit Fußball und darf auch mit den Jungs mitspielen. Sie schimpft gelegentlich heftig, wenn sie von einem Gegenspieler unsanft zu Fall gebracht wird, aber Jammern ist nicht ihr Ding. Im Übrigen teilt sie die Interessen ihrer Freundinnen und kichert mit ihnen über alles Mögliche, was zwölfjährige Mädchen lustig und aufregend finden.

«Also», begann Erich an einem Sonntagabend, «statt den Krimi zu schauen, erkläre ich dir, wie Schach funktioniert. Ich bringe dir die Schachregeln bei, und du wirst sehen, dass Schach spielen spannender ist als ein Konserven-Krimi in der Glotze.»

Lisas Vater lachte und meinte, dass seine Tochter wohl kaum an einem Schachbrett Probleme lösen werde, wenn sie statt dessen einen spannenden Film sehen könnte. Das sei doch kein Spiel für Mädchen, gab die Mutter zu bedenken, und Maya pflichtete ihr bei. Erich habe auch schon versucht, ihr das Schachspiel beizubringen, aber weil sie gegen ihn nie auch nur den Hauch einer Chance sah, habe sie das Interesse an Schach verloren.

Umso begeisterter war Onkel Erich, als Lisa behauptete, das Schachspiel lernen zu wollen. Das hatte etwas mit Rudi zu tun, ihrem Schulfreund, der Mitglied der Juniorenabteilung eines Schachklubs der Stadt ist und der sie schon gefragt hatte, ob sie nicht Lust hätte, mal in seinem Klub vorbeizuschauen. Da würden auch Mädchen mitmachen, meinte er.

«Wir setzen uns in eine ruhige Ecke, und ich erkläre dir erst einmal die Schachregeln.» Erich hat tatsächlich ein Schachbrett und die Figuren mitgenommen und baut nun das ganze Set auf.

An diesen Moment wird sich Lisa später genau erinnern. Jetzt konnte sie aber noch nicht ahnen, wie wichtig für sie das Schachspiel im Laufe der nächsten Monate und Jahre noch werden würde.

Die Elemente des Schachspiels
Das Schachbrett

«Eine Schachpartie wird auf einem Brett mit 64 Feldern ausgetragen. Acht abwechselnd schwarze und weiße Felder in der Breite (a bis h) und in der Höhe (1 bis 8) bilden die quadratische Bühne für ein Schachspiel», doziert Erich. «Beim Aufstellen des Schachbretts ist darauf zu achten, dass der Spieler mit Weiß seine Figuren auf den Linien 1 und 2 platziert, die schwarzen Figuren stehen auf den Linien 7 und 8. Die Eckfelder a1 und h8 sind immer schwarz. Alles klar?»

Die Figuren in der Startaufstellung

«Schau mal, es gibt nur sechs verschiedene Figuren, von denen jede eine eigene Rolle hat im Schachspiel», meint Erich, «und du musst zuerst lernen, wie diese Figuren sich auf dem Brett bewegen dürfen: der König, die Dame, die Läufer, Springer, Türme und die Bauern. Sieh dir die Startaufstellung der Figuren genau an. Und jetzt stellst du die Figuren selber auf das Brett.» Mit diesen Worten schiebt Erich sämtliche Steine vom Brett und schaut Lisa anschließend zu, wie sie eine Figur nach der andern wieder auf ihre Startposition setzt.

Diagramm 1

Schachnotation (1. Teil)

Schwarz

König auf e8 Ke8

Dame auf d8 Dd8

Türme Ta8 und Th8

Läufer Lc8 und Lf8

Springer Sb8 und Sg8

8 Bauern auf a7 bis h7

Weiß

König auf e1 Ke1

Dame auf d1 Dd1

Türme Ta1 und Th1

Läufer Lc1 und Lf1

Springer Sb1 und Sg1

8 Bauern auf a2 bis h2

«Sehr gut, fast perfekt», lobt der Onkel, nachdem Lisa alle Steine wieder so hingestellt hatte, wie sie es für richtig hielt, «nur eine kleine, aber wichtige Änderung: Die Damen und Könige hast du auf die falschen Felder gestellt. Merk dir einfach, dass in der Grundstellung die weiße Dame immer auf dem weißen Feld und die schwarze Dame auf dem schwarzen Feld steht. Und beachte die Buchstaben und Ziffern am Brettrand. Der weiße König steht auf Feld e1, die Dame auf d1. So kann die Stellung jeder Figur notiert werden, also Ke1, Dd1 und so weiter. Wie würdest du die Position der beiden schwarzen Springer notieren?»

«Hm, ich denke, mit S würde man den Springer bezeichnen, also Sb8 und Sg8, richtig?» Lisa schaut Erich fragend an.

«Genau, damit hast du schon begriffen, dass jeder Schachzug schriftlich festgehalten werden kann. Das ist wichtig, wenn du später lernst, Schachpartien aus Lehrbüchern nachzuspielen. Jetzt wollen wir zuerst einmal sehen, wie man die einzelnen Figuren auf dem Brett bewegt. Du musst die weißen und die schwarzen Steine als zwei feindliche Heere betrachten, jedes der beiden will das andere besiegen. Schach ist ein Kampfspiel, nur dass dabei statt Muskelkraft mehr das Denkvermögen gefragt ist.»

Lisas Eltern und Maya sitzen vor dem TV, und Erich geht kurz weg, um mit einem gefüllten Weinglas zurückzukehren.