TEIL II

Lisas erster Sieg

Es ist Sonntag, und Onkel Erich und Maya sind wieder einmal zum Abendessen vorbeigekommen. Lisa freut sich immer auf die beiden, nicht nur wegen der oft witzigen Unterhaltung während des Essens, sondern auch und vor allem, um Erich am Schachbrett herausfordern zu können.

Zum Glück ist das Wohnzimmer groß genug, Lisa lässt sich durch die Geräusche des Fernsehers kaum vom Schach spielen ablenken. Erich findet Serienkrimis nicht besonders interessant, die Täter würden sowieso alle immer kurz vor Ende der Sendung gefasst und die ganze Handlung sei in so viele kurze schnelle Filmszenen zerstückelt, dass der Zuschauer gar nicht zum Mitdenken komme. Für eine Zwölfjährige seien diese Filme sowieso nicht geeignet, meinte er, worauf Lisas Vater entgegnete, dass ein Fernsehkrimi im Vergleich zu den Killergames, welche die Jugendlichen an Computern spielen, geradezu harmlos sei.

«Schach ist doch auch eine Art Kriegsspiel», wirft Lisas Mutter ein, «ich weiß nicht, ob das die richtige Beschäftigung für ein Mädchen ist.»

«In manchen Schulen ist Schach als Unterrichtsfach eingeführt worden», hält Erich dagegen, «nicht um Krieger auszubilden, sondern um das logische Denken der Jugendlichen zu fördern.»

Zum Glück beginnt jetzt der Krimi, und die Gefahr, dass die Erwachsenen anfangen darüber zu streiten, welches die dümmste oder gescheiteste Art von Erziehung und Freizeitbeschäftigung sei, ist gebannt.

Erich hat das Schachbrett aufgebaut und streckt Lisa zwei Fäuste entgegen: linke oder rechte Faust, weiße oder schwarze Steine?

«Viel Glück», ruft der Vater Lisa zu, bevor er sich dem TV zuwendet. «Zeig es diesem Angeber!»

Lisa weiß, dass es in diesem Spiel nicht auf das Glück ankommt, und Papa weiß das auch. Er hofft einfach, dass Lisa seinen Bruder ein wenig fordern kann, dass sie ihm das Gewinnen nicht allzu leicht machen würde. Sicher erwartet er nicht ernsthaft, dass sie ihren Lehrmeister schlagen könnte.

Sie tippt auf Erichs linke Faust, in der sich der schwarze Bauer versteckt hatte. Also hat Erich die weißen Steine, nimmt einen Schluck Rotwein, und eröffnet.

Erich Lisa

1. e4 e5

2. Sf3 Sc6

3. Lb5 (Diagramm 97)

Erich wählt also seine Lieblingseröffnung, die Spanische Partie, wie Lisa inzwischen weiß. Bisher hatte sie damit immer ihre Mühe, wenn sie mit den schwarzen Steinen spielte, und verlor schon nach wenigen Zügen Material.

Diagramm 97, Schwarz am Zug

Vor einem Monat hatte Erich sie in sein Stammlokal mitgenommen, ins Café Littéraire, in dem immer an ein paar Tischen Schach gespielt wird, und zwar um kleine Geldbeträge, wie Lisa erstaunt feststellte. Die meisten Männer im Lokal waren etwa in Erichs Alter oder noch älter, manche von ihnen saßen als Zuschauer und Kommentatoren an den Schachtischen und verfolgten die Partien aufmerksam. Unauffällig schob ein Zuschauer dem Spieler, der gerade gewonnen hatte, Geld über den Tisch, um als Nächster gegen ihn antreten zu dürfen.

Erich war offenbar so etwas wie der Platzhirsch in diesem Lokal, er wurde von den Spielern an den Tischen respektvoll begrüßt und bekam innert Minuten Gelegenheit, den Sieger am zweiten Tisch zu fordern, einen hageren Mann mit kantigen Gesichtszügen, der nervös eine Zigarette selber drehte.

«Jetzt siehst du mal eine richtig gute Schachpartie, Lisa», sagte Erich beiläufig, während er seinen ersten Bauern ins Spiel brachte. Erich war nun in seinem Element, die Miene seines Gegners verdüsterte sich zusehends.

«Ts, ts.» Ein Zuschauer machte sich kopfschüttelnd bemerkbar. «Läufer auf e7», raunte er einem andern Zuschauer zu.

«Sei bitte ruhig», fauchte Erichs Gegenspieler dem Mann zu, «ich brauche deinen Kommentar nicht!»

Nach einer Viertelstunde war das Spiel entschieden, Händedruck, ein zufriedener Onkel Erich. Er verzichtete auf eine weitere Partie und verabschiedete sich von seinen Kollegen. «Siehst du, das war jetzt ein spannendes Spiel», sagte er zu Lisa, als er die Getränke bezahlte, «und hast du etwas davon mitbekommen?»

«Ja, das war interessant. Für mich bist du der Größte», antwortete Lisa und wusste, dass Erich das Lob überaus gerne hörte. Sie war froh, das Lokal verlassen zu können.

Sollte sie Springer auf d4 riskieren? Oder mit dem Springer auf f6 und den Bauern e4 angreifen? Sie entscheidet sich:

3. … a6

4. La4 b5

5. Lb3 (Diagramm 98)

Diagramm 98, Schwarz am Zug

Das ging doch ganz gut! Den lästigen Läufer habe ich vertrieben. Aber wenn Erich ihn auf d5 stellt? Ich könnte jetzt den Springer auf f6 setzen. Oder den Läufer auf b7, um den Springer c6 besser zu schützen, denkt Lisa. Sie hat das Gefühl, bisher alles richtig gemacht zu haben. Erich hat jedenfalls nicht schon nach fünf oder sechs Zügen einen Bauern mehr auf dem Brett wie sonst immer, wenn er diese Eröffnung wählte.

5. … Lb7

6. c3 (Diagramm 99)

Diagramm 99, Schwarz am Zug

Aha, er will wohl d4 vorbereiten und dann Sg5, vermutet Lisa. Sein weißer Läufer und der Springer würden dann f7 angreifen. So hat er auch in diesem merkwürdigen Café gespielt. Sie überlegt angestrengt. Den Springer auf f6 zu stellen, wäre wohl nicht der beste Zug. Läufer auf e7? Ja, dann kann Erich sein Pferd nicht auf g5 setzen… Lisa nimmt sich Zeit. Sie erwägt auch, mit Springer auf a5 den weißen Läufer anzugreifen und entscheidet sich dann doch für den Läuferzug.

6. … Le7

7. d4 (Diagramm 100)

Diagramm 100, Schwarz am Zug

Lisa ist nun ziemlich nervös. Sie nimmt wahr, dass Erich sich einen weiteren Schluck Rotwein genehmigt und die Stellung auf dem Brett interessiert betrachtet. Vor dem letzten Zug hat er ziemlich lange gewartet. Sonst antwortet er immer sofort auf Lisas Züge, als hätte er schon längst gewusst, was sie spielen würde und welchen nächsten Zug er schon im Sinn hatte. Oder welche nächsten drei oder vier Züge. Lisa hat erkannt, dass sie ebenfalls versuchen muss, Erichs nächsten und übernächsten möglichen Zug vorauszuahnen.

«Wieder die Russenmafia», hört sie ihren Vater sagen. «Da gibt es wieder viele Tote.» Soll sie den d-Bauern schlagen? Dann schlägt Erich ebenfalls auf d4 und hat ein starkes Zentrum.

7. … d6

8. 0–0

Lisa war schon auf 8. d5 vorbereitet und hat überlegt, ob dann Sa5 oder Sa7 besser wäre. Gerne würde sie auch die Rochade ausführen, aber der Springer g8 steht ihr noch im Weg, also wäre wohl Sf6 kein schlechter Zug. Sie hat eine andere Idee:

8. … Lf6

9. dxe5 (Diagramm 101)

Diagramm 101, Schwarz am Zug

Damit hat Lisa gerechnet. Im Spiel letzte Woche gegen «Stockfish», dem Schachprogramm auf ihrem iPad, hat sie gelernt, sich besser zu verteidigen. Aber auch nur mit Schummeln, indem sie nämlich einen schlechten Zug zurücknehmen und einen andern spielen konnte. Das würde Erich nicht zulassen, aber das ist schon okay. Schließlich gibt es klare Regeln. Dennoch hatte sie gegen «Stockfish» am Ende wieder keine Chance gehabt.

Autoreifen quietschen, Kommissar Hagen hat es eilig. Jetzt braucht Lisa aber doch ein wenig Bedenkzeit: Soll sie den Bauern e5 mit dem Springer, dem Läufer oder mit dem Bauern d6 schlagen? Ihre ursprüngliche Idee war d6xe5, worauf Erich vermutlich auf einen Damentausch eingehen würde: Dxd8, Txd8. Aber beim genaueren Hinsehen scheint Sxe5 die vorteilhaftere Variante zu sein. Dieser Zug öffnet die Diagonale für den Läufer auf b7, der den Bauern e4 angreifen würde. Springer schlägt e5 ist definitiv der beste Zug.

Erich schaut sonst meistens zum Fernseher rüber, um etwas vom Krimi mitzubekommen, wenn sich Lisa einmal etwas mehr Zeit nimmt für ihren nächsten Zug. Es käme ihr sehr gelegen, wenn Erich sich jetzt ein wenig ablenken ließe, aber nein, er wartet gespannt auf ihren Zug. Nun gut!

9. … Sxe5

10. Sxe5 dxe5

11. De2 (Diagramm 102)

Diagramm 102, Schwarz am Zug

Also kein Damenabtausch! Wenn er Td1 spielt, muss ich meine Dame in Sicherheit bringen. Am besten, ich stelle sie auf d6, um sie nachher auf c6 oder b6 in eine sicherere Zone zu verschieben. Und dann sollte ich mit dem Springer auf e7 gehen, um endlich rochieren zu können, überlegt Lisa.

«He, ihr seid so ruhig!», ruft Papa den beiden am Schachtisch zu, «alles klar bei euch?» Lisa schaut kurz auf und lächelt zerstreut: «Schon gut, Papa, kein Problem.» Erich ruft über seine Schulter Richtung Sofa, dass ihm Lisa heute zu schaffen mache. Sie habe schon große Fortschritte gemacht. «Gut, gut», meint Papa und konzentriert sich wieder auf den Krimi. Lisa bleibt bei ihrem Plan:

11. … Dd6

12. Td1 Db6

Das läuft ja so, wie ich gedacht habe, freut sich Lisa.

13. Le3 (Diagramm103)

Diagramm 103, Schwarz am Zug

Oh, mit dem hätte ich eigentlich auch rechnen müssen, denkt Lisa. Die leicht aggressive Weise, wie Erich den Läufer auf das Feld e3 gestellt hat, ist typisch für ihn, wenn er in den Angriff geht. Die Holzfiguren auf dem Brett wackeln ein wenig, als Erich den Läufer energisch auf e3 platziert. Das lässt Lisa unbeeindruckt. Ganz behutsam schiebt sie den c-Bauern:

13. … c5

14. Ld5 (Diagramm 104)

Diagramm 104, Schwarz am Zug

Nun kommt er also, Erichs Großangriff. Aber Lisa bleibt erstaunlich gelassen. Erich will den Läufer auf b7 schlagen, ihre Dame muss dann den Läufer b7 ebenfalls schlagen, und schließlich schlägt Erichs Läufer e3 den Bauern c5. Alles klar, so käme Erich zu einem Mehrbauern. Kann sie etwas dagegen tun?

Noch einmal nachdenken: Ich möchte jetzt endlich den Springer auf e7 stellen, aber das verhindert den Bauernverlust nicht. Turm von a8 nach d8 sieht interessant aus. Schlägt Weiß b7, dann schlage ich den Turm d1 mit Schachgebot. Den Läufer b7 kann ich dann immer noch schlagen und den Bauern e4 angreifen.

Lisa wird auf einmal bewusst, dass sie soeben im Begriff ist, mehrere Züge hintereinander vorauszuberechnen und vergisst beinahe das Atmen. Erich lehnt sich betont lässig zurück und betrachtet sein Weinglas, das er in der Hand hält. Es muss unbedingt nachgefüllt werden. Lisa hat sich entschlossen:

14. … Td8 (Diagramm 105)

Diagramm 105, Weiß am Zug

Erich war schon unterwegs zur Weinflasche und setzt sich wieder. Er mustert Lisa über den Rand seiner dicken Hornbrille hinweg, als wollte er lesen, was in ihrem Kopf vorgeht, schaut auf das Brett und macht den nächsten Zug:

15. c4 Se7

16. Sc3 bxc4 (Diagramm 106)

Diagramm 106, Weiß am Zug

Während Erich seinem Weinglas zu neuem Inhalt verhilft und kurz den TV-Krimi verfolgt, holt sich Lisa ein kaltes Getränk aus dem Kühlschrank und setzt sich gleich wieder ans Schachbrett. Wird er den Bauern c4 mit der Dame schlagen und den Druck auf f7 verstärken? Dann müsste ich den Läufer d5 abtauschen, denkt sie.

Doch Erich, der sich wieder aufs Schach konzentriert, hat anscheinend andere Pläne:

17. Sa4 (Diagramm 107)

Diagramm 107, Schwarz am Zug

Überraschung! Erich hat den Zug stehend ausgeführt und sich gleich wieder vor den TV begeben, wie wenn ihn die Schachpartie nicht mehr interessierte. Dort sieht er den Polizisten zu, die ein leerstehendes Fabrikgebäude betreten.

Lisa hat das Gefühl, dass die nächsten Züge entscheidend sind für den Ausgang dieser Partie. Jetzt bloß nichts falsch machen. Wohin mit der Dame? Den Bauern c5 wird sie verlieren, Erich wird ihn wohl mit dem Springer schlagen. Danach muss ihr Läufer auf b7 den Läufer d5 schlagen, der dann wiederum geschlagen wird vom Bauern e4. Weiter mag sie nicht vorausdenken, bisher ist alles schon kompliziert genug. Erich steht immer noch vor dem TV und lässt Lisa alleine am Schachbrett sitzen. Lisa weiß, dass er das immer tut, wenn er einen Zug gemacht hat, auf den sie meistens keine gescheite Antwort mehr hat.

Dame nach b5 scheint ihr der beste Zug zu sein. Eigentlich gar nicht übel, soll er doch den Bauern c5 nehmen! Nach dem anschließenden Abtauschen der beiden Läufer würde sie materiell gleich gut stehen.

Erich ist ans Brett zurückgekehrt, weiter gehts!

17. … Db5

18. Sxc5 Lxd5

19. exd5 (Diagramm 108)

Diagramm 108, Schwarz am Zug

Na also, denkt Lisa, diese Partie hat Erich noch nicht gewonnen! Mein nächster Zug ist klar: den Bauern d5 schlagen. Erstaunlich, dann habe ich sogar einen Mehrbauern…

Bevor sie mit dem Springer den Bauern d5 schlägt, prüft Lisa, ob es noch einen besseren Zug gäbe. Doch sie bleibt dabei:

19. … Sxd5

20. a4 Dc6 (Diagramm 109)

Diagramm 109, Weiß am Zug

Jetzt wird er den Bauern c4 erobern, doch ich sehe schon meinen nächsten Zug, geht es Lisa durch den Kopf. Ich werde den Läufer e3 schlagen und dann endlich die Rochade ausführen. Wenn er den Turm d8 schlägt, schlage ich mit dem Läufer f6 zurück, um nicht den König zu bewegen und die Rochade zu vermasseln. Aber zuerst wird er wohl jetzt mit der Dame den ungeschützten Bauern c4 schlagen…

21. Dxc4 Sxe3

22. Txd8+ Lxd8

23. fxe3 (Diagramm 110)

Diagramm 110, Schwarz am Zug

Weiß greift den Bauern a6 doppelt an, mit Dame und Springer. Aber seinen Springer c5 darf er nicht spielen, ohne die Dame auf c4 zu verlieren. Mit der Dame kann er a6 nicht schlagen, ohne den Springer zu verlieren. Wenn ich nun den Springer angreife, nämlich mit dem Läufer auf b6 oder e7?

«Das ist eine Falle», ruft Papa. Lisa schaut auf. Kommissar Hagen betritt mit vorgehaltener Pistole ein dusteres Zimmer. Erich hebt nicht einmal den Kopf, im Gegenteil, er widmet seine volle Aufmerksamkeit den Figuren auf dem Schachbrett, Kommissar Hagens gefährliche Aktion scheint ihn nicht zu kümmern. Läufer e7 oder besser auf b6? Natürlich b6! Der ungeschützte Bauer auf e3, der König in der gleichen Diagonalen auf g1! Das ist vielversprechend.

23. … Lb6!

24. b4 (Diagramm 111)

Diagramm 111, Schwarz am Zug

Jetzt endlich die Rochade!, ist Lisas erster Gedanke. Heute hat sie aber kaum je den Zug ausgeführt, der ihr zuerst einfiel. Erich verteidigt mit dem Bauern auf b4 hartnäckig seinen Springer, der im Moment aber keine Sprünge machen darf, sonst ist ja die Dame weg! Und wenn ich nun den Bauern b4 angreife, nämlich mit a5? Ist das gut? Schlägt er a5, schlage ich den Springer c5, am besten mit meiner Dame, und gewinne eine Figur. Aber würde er a5 schlagen? Er könnte ja auch mit der Dame auf a6 oder e4. Sirenengeheul. Lisa bleibt konzentriert. Dame e4 müsste ich schlagen, dann schlägt der Springer meine Dame, ich schlage mit dem Läufer e3 und biete Schach – ja, das ginge auch. Geht er mit der Dame auf a6, schlage ich mit meinem Bauern a5 seinen auf b4. Das Sirenengeheul erstirbt, wieder quietschende Reifen, Schreie, Schüsse. Doch, a5 kann ich machen!

24.… a5

Erich nimmt sich Zeit, kratzt sich am Kopf. Trinkt einen Schluck und – Lisa hält den Atem an – berührt den Turm a1. Er stellt ihn auf f1! Mit Nachdruck! Zack, hier ist mein Turm!

25. Tf1 (Diagramm 112)

Diagramm 112, Schwarz am Zug

Lisas Schreck ist nur kurz. Sie hat eher mit De4 gerechnet und ist nun sogar erleichtert, dass Erich ihr Gelegenheit gibt, endlich die Rochade auszuführen. Damit ist die Gefahr Dxf7+ abgewendet, ihr König im Trockenen und, was jetzt ganz wichtig ist, sie kann ihren Turm ins Spiel bringen. Sie benötigt nicht viel Bedenkzeit und rochiert.

25. … 0–0

26. Tc1 Tc8

27. Db5 (Diagramm 113)

Diagramm 113, Schwarz am Zug

Jetzt cool bleiben, sagt sich Lisa. Sie geht alle Optionen durch: Dame b5 schlagen? Das wäre ein Damenabtausch, und sie könnte anschließend den Bauern b4 erobern. Oder mit dem Läufer den Springer c5 schlagen? Das sieht auch gut aus.

«Er ist uns entkommen!», schreit Kommissarin Buck, Hagens Kollegin. «Gib Sven Bescheid, er soll mit seinen Leuten die Sterngasse abriegeln!», ruft Hagen in sein Funkgerät. Noch einmal die Gedanken ordnen. Bauer a5 schlägt b4, Dame schlägt Bauer b4 – nein, das macht er nicht, sonst schlage ich ja mit dem Läufer seinen Springer –, also andere Variante: Bauer schlägt b4, Dame schlägt Dame c6. Dann schlage ich mit dem Turm seine Dame auf c6 – auch gut. Sie merkt, dass Erich sie anschaut. «Du spielst unglaublich stark, heute», murmelt er anerkennend.

«Abwarten», entgegnet sie, noch nicht davon überzeugt, Erich besiegen zu können. Aber ihr Zug steht fest:

27. … axb4 (Diagramm 114)

Diagramm 114, Weiß am Zug

Erich seufzt resigniert. Resigniert? Sie schaut ihren Onkel fragend an. Hat sie einen Fehler gemacht? Erich hat sich zurückgelehnt und reinigt mit einem Taschentuch die vernebelten Gläser seiner Brille. Er schüttelt den Kopf. «Unglaublich», wiederholt er, und jetzt wird Lisa zum erstenmal bewusst, dass sie diese Partie gewinnen kann. Ja, gewinnen muss!

Erich schlägt – wie erwartet – ihre Dame auf c6. Nicht wie sonst, zack, hier ist meine Dame!, nein, wie in Zeitlupe.

28. Dxc6 Txc6 (Diagramm 115)

Diagramm 115, Weiß am Zug

Den letzten Zug musste sich Lisa keine Sekunde überlegen. Nun ist Erich an der Reihe. «Wir wussten ja, dass da noch eine Hintertür war», sagt Kommissarin Buck, «aber er entwischt uns nicht.» Dumpfe Musik tönt aus dem TV. Was kann Erich noch machen, um den Springer zu retten? Noch ein Seufzer, dann hebt er den Springer vom Brett…

29. Sd3 (Diagramm 116)

Diagramm 116, Schwarz am Zug

Cool bleiben! Wieder vergisst Lisa beinahe zu atmen. Und macht den nächsten Zug:

29. … Lxe3+

30. Kf1 Lxc1 (Diagramm 117)

Diagramm 117, Weiß gab auf

Was kann Erich noch machen? Den Läufer schlagen und dafür den Springer hergeben? Den Bauern b4 schlagen?

Eigentlich kann er nichts mehr ausrichten, um mir gefährlich zu werden, überlegt Lisa ganz sachlich.

Erich starrt ungläubig auf das Brett. Das Undenkbare ist Tatsache geworden. Er ist einen kurzen Moment geschockt, doch dann kippt er seinen König um und sagt mit belegter Stimme: «Ich gratuliere dir!»

Einen Moment lang ist Lisa sprachlos. Dann schreit sie: «Ich habe gewonnen, ich habe gewonnen!»

«Was ist los?», rufen ihre Eltern und Maya gleichzeitig. Sie eilen herbei und gucken abwechselnd Erich und Lisa an. Lisa platzt vor Stolz: «Ich habe gewonnen, Erich hat aufgegeben!»

«Stimmt das? Das ist ja fast nicht zu glauben!», staunen ihre Mutter und Maya gleichzeitig, und ihr Papa strahlt vor Freude. «Wie war das möglich?», fragt er.

Alle haben sie den Krimi, der noch nicht zu Ende ist, vergessen und wollen wissen, wie Lisa es geschafft hat, das Schachgenie zu besiegen. Erich hat sich gefasst und hebt sein Weinglas: «Lisa hat wirklich extrem gut gespielt, ich habe ihr nichts geschenkt. Ihr könnt stolz sein auf sie… und, äh, ich scheine ein guter Lehrmeister gewesen zu sein. Himmel, das kostet mich ein City-Bike, weil ich die Wette verloren habe – Prost!»

Lisa nimmt die Gratulationen der Erwachsenen entgegen, die auf ihren Sieg anstoßen. Gleich am nächsten Tag würde sie Rudi mitteilen, dass er sie gerne demnächst in seinen Schachklub mitnehmen dürfe.