Seit ein paar Monaten ist Lisa Mitglied der Juniorenabteilung des Schachklubs «ChessMate». Rudi, ihr Schulfreund, hatte es ihr leicht gemacht, Anschluss zu finden und andere Mitglieder des Vereins kennenzulernen. «Wir haben die Stärkeklassen A und B», erklärte er Lisa. Als Neumitglied wirst du im B anfangen. Wenn du in den internen Ausscheidungen genügend Punkte sammelst, steigst du in die A-Klasse auf.»
Ihre ersten Partien gegen andere Klubmitglieder fielen unterschiedlich aus. Ein paar Spiele verlor sie, aber sie merkte bald, dass sie bei Weitem nicht die Schwächste war. Zuerst musste sie lernen, mit der Schachuhr umzugehen und sich daran gewöhnen, jeden Zug auf einem vorgedruckten Spielformular zu notieren, wenn es sich um Partien handelte, die für das klubinterne Ranking zählten. Kein Problem für Lisa, die das Notieren der einzelnen Züge von Onkel Erich gelernt hat. Ihren ersten Sieg gegen ihn, der nun schon ein halbes Jahr zurückliegt, hatte sie glücklicherweise auch schriftlich festgehalten. Sie ist mittlerweile dreizehn Jahre alt geworden, und Onkel Erich hat neulich festgestellt, dass seine Haare zu ergrauen beginnen. Das sei nur wegen Lisa, behauptete er, die ihm das Leben mit ihrem Schachspiel immer schwerer mache.
Die Schachuhr hat für beide Spieler getrennte Zeitanzeigen, von denen immer nur eine läuft. Hat ein Spieler die ihm zur Verfügung stehende Bedenkzeit überschritten (im Turnierschach normalerweise 90 Minuten für die ersten 40 Züge, beim Schnellschach zwischen 15 und 60 Minuten, beim Blitzschach meist nur 5 Minuten für die gesamte Partie), hat er die Partie verloren. Lisa war es nicht gewohnt, so viel Bedenkzeit zu haben und wurde leicht ungeduldig, wenn ihre Gegenspieler lange Minuten verstreichen ließen bis zum nächsten Zug. Doch manchmal zog sie voreilig, um dann festzustellen, dass sie einen besseren Zug hätte spielen können. Am liebsten spielte sie Blitz- oder Schnellschach.
Es wurde aber nicht nur Zeit mit Schach spielen verbracht. «Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper», dozierte Roberto, der Juniorencoach, des öfteren, wenn er die jungen Spielerinnen und Spieler auf die Jogging-Strecke oder zum Fußballplatz führte. Gerne verbringt Lisa ihre Zeit im Schachklub aber auch mit dem Lösen von Schachaufgaben, am liebsten zusammen mit ihren neuen Freundinnen und Freunden.
«Schaut euch diese Probleme an, und versucht sie zu lösen», beginnt Roberto jeweils. «In euren Partien wird sich vielleicht einmal eine ähnliche Konstellation ergeben.»
«Beim folgenden Problem kommt es zu einem erstickten Matt», erklärt Roberto heute. «Das ist eine Situation, in der der König von seinen eigenen Figuren so eingeengt wird, dass ihn ein einzelner gegnerischer Stein mattsetzen kann. Hier kann der weiße König dem Damenschach nicht auf f1 ausweichen. Warum nicht?»
Aufgabe (Diagramm 118):
Wie setzt Schwarz den Angriff nach Db6+ fort, wenn der weiße König auf h1 flüchtet?
1. Kh1 …
2.… …
3.… …
4.… …(matt)
Diagramm 118
Lösung Seite →
Lisa schaut kurz hin und antwortet zuerst: «Ja klar, sonst geht die Dame auf f2 und matt», sagt sie.
«Richtig», nickt Roberto. «Der König geht also nach h1. Und dann setzt Schwarz in vier Zügen matt. Wie, müsst ihr herausfinden!»
«Hm, wenn der König auf h1 steht, kann der Springer auf f2 wieder Schach geben, aber dann?» Das kleine Grüppchen mit Lisa, Nadja, Roger und Rudi überlegt und diskutiert noch eine Weile, dann grinst Rudi, der auch Lust hatte, mit den Freunden vom «B» Schachprobleme zu lösen: «Okay, ich glaube, ich habs!»
«Schön für dich», grummelt Roger, «kannst du uns verraten, wie das gehen soll?»
Rudi spielt Zug für Zug vor, und Roberto nickt anerkennend: «Wow, stark! Gehen wir gleich zum nächsten Beispiel.»
Roberto baut die nächste Stellung auf: «Ich traue euch zu, das folgende Problem relativ schnell lösen zu können, es ist wirklich keine große Sache. Weiß zieht und gewinnt rasch. Beachtet die Löcher in der schwarzen Stellung. Es ist wichtig, dass ihr lernt, solche Chancen zu erkennen und zu nutzen. Weiß zieht also, und Schwarz ist kurz darauf matt. Ich verrate euch nicht, wie viele Züge Weiß für das Mattsetzen benötigt. Im richtigen Spiel gibt dir auch niemand einen Hinweis, dass du den Gegner in soundsovielen Zügen mattsetzen kannst. Rudi, du wirst wahrscheinlich beim ersten Hingucken auf die Lösung kommen, aber lass die andern ein bisschen überlegen, bis sie selber herausfinden, wie Weiß gewinnt und wie viele Züge es bis zum Matt dauert!», beendet Roberto seine Ansage.
Aufgabe (Diagramm 119):
Wie gewinnt Weiß auf dem direktesten Weg?
1.… …
2. … …
3.… …
4.… …
Diagramm 119
Lösung Seite →
«Keine große Sache, hat er gesagt», murmelt Nadja, «dabei steht Schwarz materiell besser als Weiß.» Alle vier konzentrieren sich auf das Brett, und für einen kurzen Moment wird es still im Raum. Nadja, die zwei Jahre älter ist als Lisa, meldet sich als Erste: «Ich würde mit der Dame auf c2, im zweiten Zug dann auf h7 und im dritten auf h8 Schach geben. Schwarz könnte noch den Springer auf g8 stellen, aber dann setzt die Dame auf g8 matt, weil sie vom Läufer c4 geschützt ist.»
«Matt? Der Springer ist ja dann nicht mehr auf e7, der König könnte also abhauen. Aber was machst du, wenn Schwarz im nächsten Zug den Springer auf d5 stellt oder mit dem Turm den Läufer d2 schlägt?», fragt Rudi. «Ehm, äh, Mist, ja, dann geht das natürlich nicht», ärgert sich Nadja. Sie träumt von einer Karriere als Model, hat sie Lisa einmal verraten, und Lisa hat sich gewundert: Model und Schach spielen – wie passt das zusammen? Doch sie mag Nadjas spontane und offene Art, ihre Meinungen zu äußern und findet sie überhaupt nicht affektiert.
Roger hat die Lösung: «Läufer auf h6! Wenn der Bauer g7 den Läufer schlägt, schlägt die Dame den Bauern f6, und der schwarze König ist mattgesetzt.» Doch Roger korrigiert sich gleich selber: «Oh, merde» – seine Mutter ist Französin –, «nein, ich bin ja so blöd, das geht auch nicht. Wenn ich den Läufer auf h6 stelle, schlägt Schwarz natürlich den Turm auf d1.» Roger schüttelt den Kopf und ärgert sich, so voreilig gewesen zu sein. «Schon gut», sagt Roberto, «die Idee war gar nicht so schlecht.»
«Stimmt!», ruft Lisa aufgeregt. «Ich habs! Danke, Roger!» Alle schauen Lisa an, und nun muss sie natürlich ihre Lösung erklären.
«Ihr seid gut drauf, heute», lobt Roberto. «Ich habe da noch etwas für euch. Einen typischen Anfängerfehler. Ihr müsst ihn erkennen, denn er passiert nach Eröffnungen mit d2 gar nicht so selten.»
Roberto spielt auf dem Brett die ersten Züge einer Partie nach:
1. d4 Sf6
2. Sf3 c5
3. Lg5 cxd4
4. Sxd4 Sc6
5. e3?
«Stopp!» Roberto bittet um Aufmerksamkeit. «Es ist noch gar nicht lange her, da ergab sich genau diese Stellung in einer Partie zwischen zwei Spielern in deiner Gruppe, die ich zufällig als Zuschauer verfolgte», bemerkt er zu Rudi. «Der fünfte Zug von Weiß ist fatal, aber der Spieler mit den schwarzen Steinen war offensichtlich schachblind und spielte d5.