Schachpraxis und Strategie

Auch Lisas zweite, dritte und die folgenden Partien im Laufe der nächsten zwei Monate gegen Erich waren einseitig. Sie hatte einfach keine Chance gegen ihren Onkel. Sie kennt jetzt alle Schachregeln und ist in jedem Spiel bemüht, die Rochade auszuführen, aber Erich gelingt es immer wieder schon kurz nach der Eröffnung, ihren König unter Druck zu setzen, bevor sie ihre Läufer und Springer vernünftig ins Spiel bringen kann. Auch jetzt wieder, erst wenige Züge sind gespielt, muss sie zusehen, wie Erich mit dem Springer ihren Bauern auf f2 schlägt und gleichzeitig die Dame auf d1 und den Turm auf h1 angreift. Das Dumme dabei ist, dass sein Läufer auf c5 den Springer schützt. Sie würde also den Turm verlieren und bald auch die Partie.

Erich bemerkt ihren Frust und meint, dass es zu den Erfahrungen jedes Anfängers gehört, erst einmal Lehrgeld zu zahlen. «Frühestens in drei oder fünf Jahren bist du vielleicht so weit, dass du mich einmal schlagen kannst», sagt er, und das tönt so, wie wenn er ein Naturgesetz erklärt hätte. «Es würde dir nichts bringen, wenn ich meine Dame absichtlich stehen ließe, um dich gewinnen zu lassen, denn daraus lernst du nicht. Lass dich einfach nicht entmutigen!»

«Ja, klar», entgegnet Lisa. Ihre Schüchternheit und ihr großer Respekt vor Onkel Erich täuschen. Sie hat längst erkannt, dass das Schachspiel sie mehr fordert als alles, was sie bisher in ihrem Leben je gelernt hat. Das Denkspiel am Brett spricht sie mehr an als die sogenannten Strategiespiele am Computer gegen Wesen aus bizarren Welten, wo es um die Rettung der Menschheit geht und am Ende Millionen von Toten gezählt werden. Sie ist fest entschlossen, dazuzulernen und ihren Onkel nicht in drei oder gar erst in fünf Jahren erstmals zu besiegen.

Mit Rudi hat sie auch schon ein paar Partien gespielt und ähnlich klar verloren wie gegen Erich. Rudi war der Ansicht, dass sie für eine Anfängerin schon ganz gut spiele und wollte sie einmal mehr überreden, seinem Schachklub beizutreten. Das würde sie sich überlegen, versprach sie, zuerst wollte sie aber besser spielen lernen. Rudi empfahl ihr, sich im Internet oder einem Schachbuch die wichtigsten Eröffnungen anzuschauen. Ein bisschen Theorie sei ganz nützlich, meinte er.

«Was hältst du von Eröffnungstheorien?», fragt sie ihren Onkel. «Bringt es etwas, wenn ich ein Schachbuch für Anfänger lese?»

Erich lächelt: «Du willst es also wissen! Gut, ich bring dir nächste Woche ein kleines Schachbuch mit, aus dem ich früher viel gelernt habe. Es ist von einem Max Blau2, und ich glaube nicht, dass man es heute noch im Buchhandel bekommt, denn ich habe das Buch von meinem Vater bekommen, als ich etwa so alt war wie du. Wer sich mit Schachstrategie befasst, sucht heute meistens zuerst im Internet nach Lernvideos oder lädt allenfalls ein E-Book herunter. Ich bin da noch etwas altmodisch, obwohl ich täglich am Computer arbeite, und ziehe es vor, in einem Buch zu blättern, das ich überallhin mitnehmen und bequem lesen kann.»

Erich hat Wort gehalten und Lisa eine Woche später das kleine, abgegriffene Schachbuch mitgebracht. Sie müsse das nicht auswendig lernen, meinte er, aber es enthält gute Beispiele und nützliche Tipps.

In den folgenden Wochen zieht sich Lisa nach dem Essen und nachdem sie ihre Schulaufgaben erledigt hat, häufig auf ihr Zimmer zurück und liest in dem alten Schachlehrbuch für Anfänger. Ihre Eltern lassen sie gewähren, denn Lisas Verhalten gibt ihnen keinen Grund zur Sorge. Sie verbringt immer noch viel Zeit mit ihren Freundinnen und scheint in der Schule keine Mühe zu haben, dem Unterricht zu folgen.

Nur Erich bemerkt eine Veränderung. Lisa ist im Schach nicht mehr so leicht zu besiegen wie noch vor ein paar Wochen; er muss sich schon richtig konzentrieren, um sie nach zähem Widerstand mattzusetzen oder zur Aufgabe zu zwingen. «Lisa spielt schon echt gut», erzählt er eines Sonntagabends ihren Eltern, «ich muss aufpassen, dass sie mich nicht schon bald schlägt.»

Maya, seine Ehefrau, freut sich: «Super, Lisa, das wäre fantastisch, wenn du den großen Meister einmal besiegen würdest!»

Eröffnungen, allgemein

Das kleine Schachbuch von diesem Max Blau erweist sich für Lisa als Offenbarung. Sie findet Erklärungen, welche Eröffnungen sich im Laufe der Schachgeschichte als besonders vorteilhaft erwiesen haben, welche typischen Eröffnungsfehler meist mit Figurenverlust oder frühem Schachmatt bestraft werden, welche grundsätzlichen strategischen Überlegungen man berücksichtigen sollte und wie konsequent man materielle und stellungsmäßige Vorteile bis zum erfolgreichen Mattangriff ausnutzen kann. Hat ihre Mutter womöglich recht, ist Schach wirklich eine Art Kriegsspiel und nicht für Mädchen wie sie geschaffen? Egal, denkt sie, das Brett mit den 64 Feldern und die unglaublich vielen Möglichkeiten, die sich aus einer Spielstellung heraus entwickeln können, faszinieren sie.

Es gibt drei Phasen einer Schachpartie, lernt sie aus dem Buch: die Eröffnung, das Mittelspiel und das Endspiel. Sie befasst sich zunächst mit den Eröffnungen und lernt, dass diese schon nach wenigen Zügen bereits als abgeschlossen gelten. Die ersten Züge einer Partie sollten dazu beitragen, im «Zentrum» Präsenz zu markieren und die Leichtfiguren – Springer und Läufer – ins Spiel zu bringen.

Ungeschriebene Regeln der Eröffnung

Bei den folgenden Tipps handelt es sich um Ratschläge für den Anfänger, damit er gegen stärkere Gegner zumindest in der Anfangsphase bis ins Mittelspiel hinein mithalten kann. Wenn er mit der Zeit etwas an Erfahrung hinzugewinnt, wird er in der Lage sein, auch Eröffnungsschwächen seines Gegners zu erkennen und auszunutzen.

Beispiel eines verfrühten Angriffs

Lisa blättert weiter und findet in einem Beispiel genau die Züge, die sie neulich in einer Partie gegen Rudi gespielt hat. Sie hat die Dame früh ins Spiel gebracht und forsch auf Angriff gespielt, doch Rudi hat sie cool ausgekontert.

Weiß Schwarz

1. e4 e5

2. Lc4 Sc6

3. Dh5?

Das Fragezeichen hinter Dh5 steht für fragwürdig oder für schlecht. Weiß verstößt gegen zwei Regeln: Die Dame kommt schon sehr früh (zu früh!) ins Spiel, den scheinbar gefährlichen Mattangriff (Dxf7‡) kann Schwarz leicht abwehren.

3. … g6

4. Df3

Diagramm 31, nach 3. Dh5

Weiß hält an seinem Plan fest.

4. … Sf6

5. Db3 Sd4!

Weiß versucht immer noch, f7 anzugreifen. Besser wäre 5. d3 gewesen. Nun wird es spannend: Schwarz verzichtet darauf, f7 zu schützen und geht mit Sd4! (das Ausrufezeichen steht für einen besonders guten, überraschenden Zug) zum Gegenangriff auf die Dame über (Diagramm 32)!

Diagramm 32, nach 5. Db3 Sd4!

6. Dc3

(nach 6. Lxf7+ Ke7; 7. Dc4 b5 müsste die Dame den Läufer f7 im Stich lassen, der dann eine Beute des schwarzen Königs würde).

6. … d5!

7. Lxd5 Sxd5

8. exd5 Lf5

9. d3 Lb4!

Diagramm 33, nach 8. d3 Lb4!

Diagramm 33: Schwarz erobert die Dame! Nach 10. Dxb4 (da die Dame an den König e1 gefesselt ist, kann sie nicht fliehen) folgt Sxc2+, wonach der Springer die Dame b4 schlägt.

Diagramm 34, nach 4. Sf3 Lg7?

Zu passives Spiel wird bestraft

Weiß Schwarz

1. e4 d6

2. d4 Sd7

3. Lc4 g6

4. Sf3 Lg7? (Diagramm 34) Mit dem viel zu passiven Start hat Schwarz dem Gegner das Zentrum überlassen und wird dafür erbarmungslos bestraft.

5. Lxf7+ Kxf7

6. Sg5+ (Diagramm 35)

Diagramm 35, nach 6. Sg5+

Schwarz hat die Wahl zwischen einem raschen Ende und dem Verlust der Dame:

6. … Kf6

7. Df3 matt

oder

6. … Kf8 (oder Ke8)

7. Se6!

Unnütze Bauernzüge

Weiß Schwarz

1. e4 e5

2. Se2 Lc5

3. f4 Df6

4. c3 (Diagramm36)

Diagramm 36, nach 4. c3

Besser wären 4. d3 oder Sb1–c3 gewesen. Der Springer e2 verstellt zudem dem Läufer f1 den Weg, und eine Rochade auf dem Königsflügel kommt jetzt kaum noch infrage.

4.… Sc6

5. g3 Sh6

6. Lg2 Sg4

Es droht die Springergabel Sf2: sowohl die Dame d1 als auch der Turm h1 wären angegriffen.

7. Tf1 Sxh2

8. f4xe5? (Diagramm 37)

Diagramm 37, nach 8. f4xe5

Das sieht auf den ersten Blick noch passabel aus, doch nun folgt Matt in zwei Zügen:

8. … Dxf1+!

9. Lxf1 Sf3 matt

Bekannte Eröffnungen

Als Lisa das Kapitel «Eröffnungen» aufschlägt, staunt sie über das große Angebot an bekannten Eröffnungen. Sie vergleicht im Internet, ob dort die gleichen Eröffnungen aufgeführt sind wie in der alten Schachfibel. Es könnte ja sein, dass in den letzten Jahren neue Varianten dazugekommen sind, doch auf Wikipedia findet sie die gleichen Namen von Eröffnungen wie «Italienische Partie», «Spanische Partie», «Russische Partie» und so geheimnisvolle Bezeichnungen wie «Philidor-Verteidi-gung», «Königsindisch» oder «Nimzoindisch». Muss ich das alles wissen, fragt sie Rudi am nächsten Tag.

«Nein», meint Rudi, «das kannst du dir sowieso nicht alles merken. Wenn du Profi werden willst, musst du dich da mit der Zeit durcharbeiten, aber am Anfang würde ich mich nur auf die zwei oder drei einfachsten Varianten festlegen. Manche Eröffnungen führen zu komplizierten Stellungen im Mittelspiel, bei denen du noch mehrere Nebenvarianten kennen musst. Da verlierst du schnell den Überblick.»

«Welche Eröffnungen soll ich mir also merken?», will Lisa wissen.

«Am besten, du schaust dir die <Italienische> und die <Spanische Partie> genauer an, vielleicht dann noch die <Sizilianische Verteidigung>, weil die oft gespielt wird», rät Rudi ihr. «Die andern kannst du natürlich auch einmal durchspielen, aber besser, du kennst die eine oder andere Variante relativ gut, statt viele Varianten relativ schlecht», grinst er.

«So? Und welche Eröffnungen spielst du? Kennst du alle Varianten?»

«Nein», gibt Rudi zu, «ich sollte mich mehr damit befassen. Meistens spiele ich mit Weiß die <Spanische Partie>, mit Schwarz die <Sizilianische Verteidigung>, aber es hängt schließlich vom Gegner ab, ob er die gleichen Züge spielt wie im Lehrbuch. Auch die Schachmeister spielen meist ihre bevorzugten Eröffnungen, aber geh einfach davon aus, dass die Partien der Profis nicht schon nach der Eröffnung entschieden sind. Die Züge danach sind entscheidend, aber das ist ja das Gute am Schach: Du kannst keine Partie nach einem bestimmten Schema vom Anfang bis zum Ende planen. Ein Spiel gut zu eröffnen ist von Vorteil, danach bist du auf gute Ideen angewiesen.»

Manchmal wundert sich Lisa über Rudi, wenn er so altklug daherredet wie ein Großer, aber er kann auch blödeln wie die andern Gleichaltrigen. Sie ist froh, dass sie nicht Dutzende von Eröffnungen auswendig lernen muss.

Offene Spiele

Zuerst lernt Lisa zu unterscheiden zwischen offenen, halboffenen und geschlossenen Spielen. Offene Spiele beginnen mit dem Bauernzug von e2 nach e4, der von Schwarz mit dem Bauernzug e7–e5 beantwortet wird. Diese Art, ein Schachspiel zu eröffnen, ermögliche eine schnelle Entwicklung der Leichtfiguren Springer und Läufer, erfährt sie, und somit auch das frühzeitige Ausführen der Rochade. Es spricht also nichts dagegen, sich für offene Spiele zu entscheiden, denkt Lisa. Zu den bekanntesten Eröffnungen dieser Kategorie gehören die Spanische und die Italienische Eröffnung.

Italienische Eröffnung

Lisa wählt als erste die Italienische Variante, weil Rudi ihr die empfohlen hat.

1. e4 e5

2. Sf3 Sc6

3. Lc4 Lc5 (Diagramm 38)

Damit ist die Italienische Eröffnung abgeschlossen. Weiß am Zug könnte nun rochieren oder versuchen, das Zentrum zu verstärken. Die ruhigste, aber etwas passive Fortsetzung ist

4. d3 d6

Diagramm 38

Häufige Fortsetzung:

4. c3 (um d4 vorzubereiten)

4. … Sf6

5. d4 exd4

Schwarz wird praktisch dazu genötigt, d4 zu schlagen.

6. c3xd4 Lb4+

7. Ld2 d5 (Diagramm 39)

Diagramm 39

Es entwickelt sich ein ausgeglichenes Spiel, oft mit der Zugfolge

8. exd5 Lxd2+

9. Sb1xd2 Sxd5

10. 0-0 0-0

Nicht selten ergibt sich aus der scheinbar so ruhigen Italienischen Eröffnung heraus ein offener Schlagabtausch.

Spanische Eröffnung

Das ist die Eröffnung, die Erich meistens spielt, erkennt Lisa. Jetzt wollen wir mal sehen, wie ich mit Schwarz am besten darauf antworte.

1. e4 e5

2. Sf3 Sc6

3. Lb5 … (Diagramm 40)

Diagramm 40

Damit haben wir die Spanische Partie bereits auf dem Brett.

«Die vielen Fortsetzungsvarianten sind im Lehrbuch nicht beschrieben. Dafür müsstest du dir ein Buch besorgen, das auf über hundert Seiten nur die Spanische Partie behandelt», hat ihr Rudi erzählt. «Wie gesagt, wenn du einmal Schachprofi werden willst…», hatte er lachend hinzugefügt.

Im Internet sind hauptsächlich zwei Fortsetzungsarten erwähnt: die geschlossene und die offene Verteidigung in der Spanischen Partie. Meist verteidigt Schwarz mit

3. … a6

worauf Weiß sich entscheiden muss, den Springer c6 zu schlagen oder den Läufer vorerst auf a4 zu ziehen. Den Springer c6 zu beseitigen und dann den Bauern e5 zu erobern, mag verlockend sein, doch nach

4. LxSc6 dxc6

5. Sxe5 Dd4

gewinnt Schwarz durch den Doppelangriff auf den Springer e5 und den Bauern e4 den soeben verlorenen Bauern rasch zurück. Besser also ist

3. … a6

4. La4 Sf6

5. 0–0 Le7 (Diagramm 41)

Diagramm 41