Bleistiftzeichnung von Rosemarie J. Pfortner
Weltmeister Magnus Carlsen (links) und Viswanathan Anand signierten diese Bleistiftzeichnung 2014 in Zürich.
«Danke, dass du noch kurz etwas Zeit hast», eröffnet Roberto das Gespräch. «Ich habe dich nicht überrumpeln wollen mit der Ankündigung, dass du nächste Woche in unserem Team bist, das in der zweithöchsten Juniorenliga mitmacht. Ich habe in letzter Zeit mitbekommen, dass du große Fortschritte gemacht hast. Du hast das Potenzial, eine richtig starke Spielerin zu werden, und ich denke, dass es gut wäre für dich, erste Wettkampferfahrungen zu machen. Wie siehst du das?»
Lisa fehlen immer noch die Worte. Sie freut sich über Robertos Lob, aber jetzt melden sich wieder die Zweifel, die sie früher so lange davon abhielten, Rudis Wunsch nachzugeben, als er sie in den Schachklub einführen wollte. Ihr erster Sieg über Onkel Erich hatte sie ermutigt, einen Schritt weiter zu gehen, und diesen Schritt hatte sie bisher nie bereut, im Gegenteil. Der Klub macht ihr Spaß, sie hat neue Freundinnen und Freunde kennengelernt, und sie hat einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, ihr Schachspiel noch weiter zu verbessern. «Aber ich weiß nicht, ob ich so ein Spiel gewinnen kann», sagt sie unsicher.
«Ach, darüber mach dir keine Gedanken! Du wirst gewinnen, du wirst verlieren, egal, wer weiß das schon. Wichtig ist, dass du neue Erfahrungen sammelst und daraus lernen kannst. Nicht nur Siege, sondern auch Niederlagen bringen dich weiter. Wer sich nie mit andern vergleicht, weiß nicht wirklich, wo er steht. Geh nicht davon aus, dass ich von dir ein bestimmtes Resultat erwarte.»
Roberto erklärt ihr, dass sie mit den weißen Steinen am sechsten Brett spielen würde. Sie weiß, dass jedes Team aus sechs Spielern besteht und dass der am stärksten eingestufte Spieler oder die beste Spielerin am ersten Brett sitzen würde. Das Heimteam spielt an den Brettern eins, drei und fünf mit Weiß. Roberto empfiehlt ihr, gegen den Gegner oder die Gegnerin von Schwarz-Weiß die Eröffnung zu spielen, die sie am liebsten spielt. Sie plaudern noch ein wenig, und Lisa beginnt sich allmählich auf ihren ersten wettkampfmäßigen Einsatz zu freuen.
«Ich muss dir sagen, dass ich gar nicht so viel Zeit aufwende, um Schacheröffnungen auswendig zu lernen und Lehrbücher über Schachstrategie zu studieren», gesteht sie Roberto unterwegs auf dem gemeinsamen Weg zur nächsten Bushaltestelle. «Ich sollte vielleicht mehr Zeit ins Schach investieren, wenn ich einmal an einem größeren Turnier mitspielen möchte. Aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob ich das will. Ich finde Schach spielen faszinierend und spannend, aber ich kann mir nicht vorstellen, mich nur aufs Schach zu konzentrieren.»
Lisa hat gesagt, was ihr schon seit Längerem durch den Kopf geht. Sie erinnert sich an «Die Schachnovelle» von Stefan Zweig, das Buch, das ihr Maya zu Weihnachten geschenkt hatte, und an einen von Rogers Sprüchen, der einmal behauptete, dass die meisten Schachweltmeister eine Macke haben und viele von ihnen im Irrenhaus gelandet sind. Roger hatte gemeint, dass ihm das nicht passieren könnte, schließlich sei er dafür nicht klug genug. Die andern lachten, auch Lisa, aber etwas an Rogers unbekümmerter Äußerung stimmte sie nachdenklich.
«Schön, dass du so ehrlich bist», erwidert Roberto. «Ob du einmal an Turnieren um Elo-Punkte kämpfst oder Schach nur zum Vergnügen spielst, kannst nur du selber bestimmen. Du wirst eine Lehre machen oder studieren, was weiß ich, du wirst einen Beruf wählen und vielleicht eine feste Beziehung haben, die dir das Wichtigste ist. Bloß weil du talentiert bist, bist du nicht verpflichtet, eine Schachkarriere anzustreben.»
Roberto macht eine Pause und fährt fort: «Sieh mich an: Ich spiele gerne Schach, und der Job als Juniorentrainer macht mir Spaß. Das ist eine Voraussetzung, um überhaupt im Klub mitzumachen. Ein wirklich guter Turnierspieler bin ich aber nicht, und ich hatte auch nicht den Ehrgeiz, eine Schachgröße zu werden. Ich weiß, wo meine Grenzen sind und habe außer Schach auch andere Hobbys, vor allem meine Familie und Freunde, die mir wichtig sind.»
«Stimmt es denn, dass viele Schachmeister in der Klapsmühle landen?» Lisa wagt es endlich, die Fragen zu stellen, die sie beschäftigen.
Zu ihrer Überraschung lacht Roberto lauthals los. Sie haben die Haltestelle erreicht, und ein Bus ist ihnen buchstäblich vor der Nase weggefahren. «Das höre ich nicht zum erstenmal. Aber es stimmt nicht, dass die besten Schachspieler alle irre geworden sind. Es gibt zwar einige, die tatsächlich Psychosen entwickelt haben. Steinitz zum Beispiel, der erste offizielle Schachweltmeister, starb um 1900 verbittert und verarmt in einem New Yorker Irrenhaus.
Oder Bobby Fischer, der amerikanische Exzentriker, der 1972 in Reykjavik gegen Boris Spasski im Match des Jahrhunderts den Weltmeistertitel gewann und dann von der Weltbühne verschwand. Während des Jugoslawienkrieges gab er ein kurzes Comeback und spielte noch einmal eine Serie gegen Spasski, die er gewann. Weil er damit gegen ein Wirtschaftsembargo der USA verstieß, wollten ihn die Amerikaner ins Gefängnis stecken. Er tauchte wieder unter, und 2001 äußerte er sich in Japan in einem Radiointerview lobend über den Terroranschlag auf die Twin Towers in New York. Er starb 2008 einsam in Reykjavik im Krankenhaus.
Oder Paul Morphy. Er hat blind Schach gespielt und galt Mitte des 19. Jahrhunderts als bester Spieler der Welt. Er hat mit zwanzig Jahren gegen die stärksten Gegner simultan gespielt, ohne das Brett zu sehen, und hat sie reihenweise besiegt. Das Morphy-Gambit ist übrigens eine nach ihm benannte Eröffnung. Kurze Zeit später verlor er das Interesse an Schach völlig und wurde paranoid. Er fürchtete, dass andere – auch seine ehemaligen Freunde und sein Schwager – ihn vergiften wollten und aß nur noch, was seine Mutter ihm zubereitet hatte.»
«Das ist aber schon beängstigend», findet Lisa.
«Ja, doch das sind Ausnahmen. Sicher gibt es manch schrägen Kauz unter den besten Schachspielern, aber die findest du auch unter Wissenschaftlern und Künstlern. Genie und Durchschnittlichkeit passen irgendwie nicht zusammen. Du hast außer Schach noch ganz andere Interessen, und es ist wichtig, dass du diese nicht vernachlässigst.»
Der nächste Bus ist eingetroffen, und ein paar Haltestellen weiter verabschieden sich die beiden herzlich. Lisa nimmt sich vor, die wichtigsten Varianten der Italienischen Eröffnung noch einmal durchzugehen.
Lösungen zu den Aufgaben (Diagramme 129 bis 138)
Seite →
9. Txa7! Txa7
10. c7… und Weiß gewinnt.
Diagramm 130, Seite →
1. Dd2! Dxd5
2. Dxc3+ e5
3. Sxe5! Dxe5
4. Dc2! (Schwarz verliert die Dame)
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1. Sxe5! Lxd1?
2. Sf6+ g7xf6
3. Lxf7 matt
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1. e5–e6! f7xe6
2. Lxg7 Kxg7
3. Sf5++ Kg8
4. Sh6 matt
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1. Dd8+! Kxd8
2. La5++ Kc8 (oder Ke8)
3. Td8 matt
5) http://de.wikipedia.org/wiki/Rubinsteins_Unsterbliche_Partie
6) http://de.wikipedia.org/wiki/Rubinsteins_Unsterbliche_Partie
7) Jakob Neistadt: Eröffnungsfehler und lehrreiche Kombinationen. 1978, Schachverlag Rudi Schmaus
8) http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Robatsch
9) http://de.wikipedia.org/wiki/Vlastimil_Jansa
10) http://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1713491
11) Tarrasch–Amateur, 1931